Der Verstehbahnhof: Ein Jahr spaeter

11. November 2019 | von Daniel | Fürstenberg
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Der Verstehbahnhof: Ein Jahr spaeter

Ziemlich genau ein Jahr ist vergangen, seit wir zum 1. November 2018 die Raeumlichkeiten der ehemaligen Bahnhofsgaststaette „Dampflok“ als Nachmieter uebernahmen, um dort unsere Akivitaeten rund um digitale Bildung und die offene Werkstatt im Rahmen des Projekts „Verstehbahnhof“ auszubauen. Das Jahr hielt einige Ueberraschungen, unerwartete Herausforderungen und unplanbare Zufaelle fuer uns parat. Wir haben viel gelernt und wollen einige Lessons learned aus dem Ausbauprojekt in diesem Blogbeitrag beschreiben. In einem zweiten Post werden wir uns der inhaltlichen Seite, also unserer praktischen Arbeit mit jungen Menschen widmen.

Der Verstehbahnhof in kurz

Der Verstehbahnhof ist ein Werkstatt- und Bildungsprojekt des gemeinnuetzigen Vereins havel:lab e.V. in Fuerstenberg/Havel im Norden Brandenburgs. Wir befinden uns im Bahnhofsgebaeude der Stadt, praktisch gelegen an der Nord-Sued-Achse zwischen Berlin und Ostsee. Wir sind damit nicht nur ein toller Ort fuer junge Leute vor Ort, sondern auch ganz wunderbar besuchbar.
Unser inhaltlicher Fokus liegt auf digitaler Bildungsarbeit, sowohl praktisch orientiert (von Elektronik ueber Roboter, 3D-Druck bis Programmierung) als auch was soziale und gesellschaftliche Themen angeht (von Medienkompetenz ueber Daten- und IT-Sicherheit bis zur Zukunft der Arbeit). Aber wir haben uns inzwischen darueber hinaus entwickelt und wurden zum Ausgangspunkt vielzaehliger Entwicklungen und Dynamiken in unserer Stadt.

Die Werkstatt als Teil eines Ganzen

Auch wenn die Werkstatt eine sehr zentrale Rolle im Verstehbahnhof spielt, so ist sie doch nur eines von mehreren Modulen, die erst im Gesamten ihre Potenziale und moeglichen Wirkungen entfalten. So gibt es im Bahnhof Fuerstenberg neben der Werkstatt auch einen Veranstaltungsort in der alten Wartehalle, es gibt eine Art oeffentliches Wohnzimmer und seit Ende Oktober ist auch die Kueche endlich fertig gestellt und in Betrieb. Die Werkstatt befindet sich im Zentrum unserer Raeumlichkeiten, alle Wege fuehren durch sie hindurch, sie stellt den Kern unserer Aktivitaeten dar,  alles ist um sie herum angesiedelt.
Wir koennen durch die einzelnen Raummodule „Kueche“, „Wohnzimmer“, „Werkstatt“ und „Veranstaltungshalle“ eine breite Vielzahl unterschiedlicher Formaten abbilden, wodurch neben der Werkstattarbeit ganz neue soziale Dynamiken entstanden. So findet inzwischen auch Nachhilfe-Unterricht in unserem gemuetlichen Wohnzimmer statt, die lokale Fluechtlingsinitiative kochte zum ersten Mal gemeinsam in der Kueche (und wird wiederkommen) und nutzt unsere Infrastruktur fuer Veranstaltungen, aber auch schon fuer einen Computer-Deutschkurs. Ein Brettspieleabend und  Vorlesenachmittage befinden sich in der Einfuehrung.
Wir profitieren einerseits von der Wahrnehmung des Verstehbahnhofs primaer als Werkstatt – denn dadurch sind wir in der Aussenwahrnehmung weniger vorurteilsbelastet als es manch soziale Projekte oder Begegnungsstaetten haeufig sind, sondern werden eher als pragmatisch-neutraler Ort gesehen. Und damit sind wir niedrigschwellig zugaenglich. Zum anderen profitieren wir aber auch von Aktivitaeten, die gar nichts mit der Werkstatt zu tun haben, wie Lesungen oder oeffentlichen Debatten, durch die Menschen hierher finden, die sonst wohl niemals die Werkstatt besucht haetten und unserer Einrichtung dann mit viel Neugier und Interesse begegnen.
Die unterschiedlichen Raeume nuetzen auch ganz direkt all denen, die inzwischen zur Werkstatt gehoeren. Man kann eben auch mal was gemeinsam kochen, gemuetlich im Wohnzimmer sitzen und lesen und sich inspirieren lassen, oder eine gemeinsame Veranstaltung in der alten Wartehalle machen. Man koennte auch sagen, dass sich alle gut und gesund ernaehren koennen, waehrend sie verruecktes Zeug in der Werkstatt bauen, um es dann in der Halle dem Rest der Welt zu erklaeren.
Wir sind damit nach genau einem Jahr dort angekommen, wo wir hinwollten: der Moeglichkeits-Raum ist geschaffen, ab jetzt koennen wir uns ganz darauf konzentrieren, ihn mit Leben zu fuellen.

Der Bahnhof, ein „Brownfield“ oeffentlicher Infrastruktur

Auf dem Weg zum Ziel, einen mehr oder weniger verlassenen Bahnhof umzunutzen, gibt es viele Unwaegbarkeiten, die weder unser Vermieter noch wir uns vorher haetten ausmalen koennen. Ein solcher Bahnhof ist ja keine Brache, sondern eher ein richtiges „Brownfield“. Also nicht nur verlassen, sondern auch belastet, vornehmlich buerokratisch. Wer in einer Wartehalle etwas anderes machen will als zu warten, der muss das erstmal genehmigen lassen. Gleiches gilt fuer die Bahnhofswohnungen. Wenn ein Bahnhof privatisiert wird und zwischendurch eine Mietpartei auszieht und eine andere Mietpartei einzieht, werden diverse Gutachten benoetigt, um zu klaeren, ob ueberhaupt jemand in dem Bahnhof leben darf, aber auch wie breit die Fenster als potenzielle Fluchtwege sein muessen, denn das haengt davon ab, ob Bahnmitarbeiter darin wohnen, oder andere Menschen. Wir haben auf dem Weg zur Nutzbarmachung des Bahnhofs, auf dem Weg in die Legalitaet, vieles ueber die Abhaengigkeit von buerokratischen Prozessen ist, die oft sinnlos kompliziert gestaltet werden. Immer wieder wurden wir ausgebremst und demotiviert durch das endlos scheinende Warten auf die droelfzigste Genehmigung. Mehr als einmal konnten wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass die Wiederbelebung eines Bahnhofs mehr unbequem als erwuenscht ist.
Dabei ist so ein Bahnhof, wenn man es genau betrachtet, der fantastischste Ort fuer Projekte, wie die unseren. Fuer uns koennte es nicht besser sein, wir sind direkt am Puls der Gesellschaft, das Leben stroemt mit vielen Touristen und mehr als 1000 taeglichen Pendlern um uns herum und wir sind mittendrin eine Oase fuer Neugier und Entdeckertum, ein Ort der Emanzipation und Selbstermaechtigung.
Um dorthin zu kommen, brauchte es viel Geduld, einen extrem gesunden Pragmatismus und als es  endlich losgehen konnte, auch unendlich viel harte Arbeit.

Rueck-, Ab-, Auf-, Um- und Ausbau

Es war von Anfang an relativ klar, dass grosse Teile des Aus- und Umbaus durch uns als Mieter erfolgen mussten. Die neuen Raeume waren nach fast fuenf Jahrzehnten durchgehender Nutzung als Bahnhofsgaststaette in einem desolaten Zustand. Auf Grundlage einer klaren Reihenfolge, in der wir die einzelnen Raeume ausbauen wollten, und mit der Hoffnung, einzelne fertiggestellte Raeume schon nutzen zu koennen, waehrend anderswo weiter gearbeitet wurde, schafften wir als Erstes eine Grundausstattung mit ordentlichen Werkzeugen und Maschinen an. Das mag relativ banal klingen, aber das war eine der grundlegenden Entscheidungen, die sich im nachhinein als sehr sinnvoll heraustellten.
Unseren Beschaffungsprozess koennen wir auch zur Nachahmung empfehlen. Wir haben in den letzten 12 Monaten naemlich wenig Geld in Baumaerkten ausgegeben, sondern uns am Handwerk orientiert: Industriebedarfshandel, Holzgrosshandel, Elektrogrosshandel, Malermeisterhandel. So haben wir professionelles Werkzeug und Maschinen eingekauft und stellten fest, dass ein Einkauf von Produkten hoher Qualitaet, dort wo die Profis einkaufen, selten teurer und manchmal sogar billiger ist, als die Hobbyprodukte in der Baumarkt-“Apotheke“. Eine Kiste mit 1000 Muttern M8 kostet im Industriebedarfshandel in etwa das Gleiche wie 50 dieser Muttern im lokalen Baumarkt. Das war bei fast allen Bau- und Verbrauchsmaterialien so, die wir einkaufen mussten. Gleichzeitig bietet der Einkauf bei den entsprechenden Profis drei weitere Vorteile: es gibt erstens eine wirklich qualifizierte Beratung basierend auf einem grossen Erfahrungsschatz und zweitens sehr wohlwollende Unterstuetzung, wenn man erklaert, dass man eine offene Bildungswerkstatt ausbaut.  Und drittens baut man gleich einen guten Kontakt auf zu wichtigen Multiplikatoren in Richtung Handwerk. Es geht dabei gar nicht nur um Einkaeufe, man bekommt dort auch einfach mal etwas ausgeliehen oder anderweitig geholfen.
Wir haben auch gelernt, warum es wichtig ist, was auf einer Rechnung steht und an wen sie gerichtet ist. So haben Maschinen, die Privatpersonen anschaffen, in der Regel eine Herstellergarantie von zwei Jahren, bei gewerblicher Nutzung sinkt sie auf ein Jahr. Eine offene Werkstatt ist eigentlich weder noch, wie grosszuegig ein Hersteller in der Auslegung ist, weiss man vor dem Ernstfall aber nicht. Da gilt es pragmatische Loesungen zu finden.
Bei unserer ersten Grundausstattung an Maschinen und Werkzeugen fuer den Umbau haben wir von Anfang an und soweit moeglich auf akkubetriebene Geraete gesetzt. Damit laesst es sich nicht nur wesentlich angenehmer und flexibler arbeiten, man verteilt auch keinen Baustellendreck mit unnoetigen Verlaengerungskabeln. Das war fuer uns wichtig, da fertiggestellte Raeume ja bereits in Benutzung waren, waehrend woanders noch gebaut wurde.
Eine der besten Anschaffungen war die eines professionellen Baustellensaugers. Die Realitaet unserer Baustelle veraenderte sich grundlegend an dem Tag, als dieser Profi ins Haus kam. Mit einem guten Sauger spart man nicht nur Verbrauchsmaterial, sondern vor allem spart man Zeit und Nerven, exponentiell!
Ein schoener Nebeneffekt unseres Ausbaus und der damit verbundener Anschaffungen ist, dass wir als offene Werkstatt nun auch einen ganzen Fuhrpark ordentlicher Werkzeuge haben, die wir selbstverstaendlich auch mit anderen teilen koennen. Wer statt Zugang zu einem 3D Drucker eher eine Betonfraese braucht, ist auch richtig bei uns. Auch so finden Menschen in unsere Werkstatt, die sonst vielleicht nie Kontakt gesucht haetten.

Und ein letzter, ganz wichtiger, vielleicht der wichtigste Punkt beim Ausbau ist die Einbeziehung junger Leute aus der Region von Beginn an, also nicht einen Ort um sie herum bauen oder nur fuer sie bereitstellen, sondern sie ganz bewusst in Arbeit und Entscheidungen mit einbeziehen.
So zeichnete sich am Tag nach der Schluesseluebergabe als erster notwendiger Arbeitsschritt der Abriss der furnierten Vertaefelung und des Strukturputzes im zukuenftigen Werkstattraum. Von der Feststellung bis zum Moment, wo sich erste Kinder beim Abriss der Vertaefelung verausgabten, verging kaum mehr als eine Stunde. Ein Dutzend Arbeitshandschuhe in Kindergroessen war sofort vergriffen und mit dem ersten gemeinsamen Betreten unserer Raeume setzte sofort eine  wundervolle Betriebsamkeit ein.
Wir haben die Werkstatt ueber knapp ein halbes Jahr gemeinsam mit jungen Leuten entkernt, saniert und neu eingerichtet. Nach der Werkstatt folgten das Wohnzimmer und zuletzt die Kueche.

Ausbau einer Werkstatt mit und fuer vornehmlich junge Menschen

Mit dem Aus- und Umbau unserer neuen Raeumlichkeiten stand vor allem die Einrichtung einer kinder- und jugendgerechten Werkstatt im Fokus. Wir hatten bislang mit einer organisch gewachsenen Sammlung von Maschinen und anderer Infrastruktur gearbeitet und bei unserer Arbeit mit Kindern immer wieder festgestellt, dass wir dafuer nicht wirklich optimal eingerichtet waren. Das beginnt bei Tischhoehen und endet bei der Bedienbarkeit von Maschinen. Mit der neuen Werkstatt sollte das besser werden.
Die relevanten Arbeitsbereiche haben fast alle eine kindergerechte Hoehe bekommen und auch die gesamte Lagerhaltung ist so gestaltet, dass alles einfach zu finden und ordentlich beschriftet ist, und relevante Lagerkisten sich in einer fuer junge Menschen erreichbaren Hoehe befinden. Kinder und Jugendliche, die regelmaessiger vorbeischauen, haben ihre eigene Kiste bekommen, um Projekte und begonnene Arbeiten darin aufzubewahren.
Auch unser Maschinenpark wurde erweitert, im Besonderen um einen weiteren Lasercutter. Ein Lasercutter zaehlt zu den maechtigsten  Digital Fabrication Maschinen und bietet einen einfachen Einstieg in die Welt des Making. Kreative Ideen lassen sich einfach umsetzen und die Bandbreite moeglicher Projekte ist riesig. Unser altgedienter Industriecutter ist allerdings nicht wirklich bedienbar durch junge Menschen, die Nutzung viel zu kompliziert, was die eigentliche Niedrigschwelligkeit des Werkzeugs aushebelt. Wir haben die Werkstatt deshalb ganz bewusst um eine fast gegenteilige Maschine ergaenzt: Einen Lasercutter, der ueber ein einfaches Webfrontend gesteuert wird, mit allerlei automagischer Blackbox dazwischen. Den Netzpolitiker und Open-Everything-Enthusiasten in uns gefaellt das gar nicht, aber hier hatte die einfache Bedienbarkeit Prioritaet. Den Lasercutter kann im Endeffekt eben auch ein Dritt- oder Viertklaessler nach einem Tag Schulung schon relativ eigenstaendig bedienen. Klar nur unter Aufsicht, aber auch hier ist der Punkt ja ein anderer. Wie in allen anderen offenen Werkstaetten wollen wir Selbstermaechtigung,  Unabhaengigkeit und Selbstbestimmtheit entwickeln. Und dafuer muessen Werkzeuge eben auch zugaenglich sein fuer die primaere Zielgruppe.

Betrieb

Eine besondere Herausforderung war die Organisation des Zugangs zur Werkstatt. Wir haben deshalb mit der Fertigstellung der Raeume auch eine programmierbare Schliessanlage in Selbstverwaltung in Betrieb genommen, koennen den Zutritt zu den Raeumlichkeiten damit sehr gut steuern und dadurch breit oeffnen. Ganz besonders toll ist, dass wir so auch an die ersten jungen Nutzer*innen unserer Raeume Schluessel herausgegeben konnten.
Seit der Inbetriebnahme der Werkstatt im Fruehjahr 2019 hat sich unser Kernangebot deutlich veraendert. Wir machen regelmaessig dreimal in der Woche nachmittags Programm fuer bzw mit dem Nachwuchs, unregelmaessig haeufiger. Seit Anfang 2019 sind wir eines von zwei Jugend hackt-Labs in Deutschland, zweimal im Monat finden Samstags Jugend hackt Veranstaltungen statt, wir hatten auch schon diversen Besuch von Schulklassen oder anderen Jugendgruppen. Einmal im Monat startet im November auch unser Repaircafe – wir koennen nun ja auch endlich Kaffee kochen und Kuchen backen.
Neben unseren eigentlichen Schwerpunkten, fuellen auch ganz andere Formate langsam aber sicher den Kalender: wir waren Austragungsort der Buergermeister-Kandidatendebatte, es gab Lesungen, Konzerte, Filmvorfuehrungen und kuenftig regelmaessige offene Angebote wie Brettspieleabende oder Vorlesenachmittage, und Treffen von Gruppen wie der Willkommensinitiative. Wir stecken endlich, und zwar genau nach einem Jahr und damit genau nach Plan, in der inhaltlichen Planung, unabgelenkt durch irgendeine Baustelle.